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»Eine „Ja”-Umgebung für
Kinder schaffen«

natürlich HAMM Sommer 2023 – Seite 8

Rubrik: Titelthemen

Autorin: Lukas Rummeny

Im Interview: Erziehungsexpertin und Sachbuchautorin Nicola Schmidt

Eltern kennen das: Wenn sich Nachwuchs in der Familie ankündigt, werden sie oft mit gut gemeinten Ratschlägen und Tipps überhäuft. Von Familie, Freunden, dem Internet und Büchern erhalten sie Informationen darüber, wie sie ihr Kind richtig erziehen sollen und was unbedingt benötigt wird. Nicola Schmidt verfolgt jedoch einen anderen Ansatz. In ihren Sachbüchern und Vorträgen legt sie den Schwerpunkt auf das richtige Verhalten gegenüber dem Kind. Respekt, Empathie und Nähe sind für sie die Grundpfeiler einer guten Erziehung. Im Gespräch mit natürlichHamm spricht sie über diese Aspekte, erläutert, wie Eltern die Entwicklung ihres Kindes positiv unterstützen können und welchen Einfluss das soziale Umfeld hat.

Frau Schmidt, zu Beginn eine persönliche Frage: Wenn man sich Ihre Vita anschaut, erschließt sich nicht sofort, dass Sie sich mit Themen wie Kindern, Familie und Erziehung befassen. Als Wissenschaftsjournalistin haben Sie sich hauptsächlich mit IT-Themen beschäftigt. Was war der ausschlaggebende Punkt dafür, dass Sie sich nun mit Fragen der Erziehung und des Familienlebens beschäftigen?

Als mein erstes Kind zur Welt kam, bemerkte ich relativ schnell, dass die gängigen Ratschläge für uns nicht passten. Also begann ich, selbst zu recherchieren, und stellte fest, dass es bereits viel Wissen gab, das damals – vor 15 Jahren – noch nicht in die Öffentlichkeit gelangt war, obwohl die Wissenschaft schon sehr fortgeschritten war. Das fand ich so faszinierend, dass ich mein Themengebiet gewechselt habe.

„Unsere Kinder haben oft wenig Freiräume, um die Natur zu erkunden“

Die körperliche Entwicklung von Kindern, insbesondere im ersten Lebensjahr, ist von großen Fortschritten geprägt. Sie erlernen den Einsatz ihrer Muskulatur, das Greifen von Gegenständen und das aufrechte Sitzen. Später bewegen sie sich robbend und krabbelnd durch die Wohnung. Was sollten Erziehungsberechtigte beachten, um diese Entwicklung nicht zu beeinträchtigen?

Forschungsergebnisse zeigen, dass die motorische Entwicklung von Kindern gefördert wird, wenn sie oft getragen werden und sich frei bewegen können. Langes Sitzen in Autoschalen, Kinderwagen oder anderen Geräten sollte vermieden werden. In Kulturen, in denen Kinder häufig am Körper getragen werden, ist eine beeindruckende motorische Entwicklung in frühen Monaten oft zu beobachten. Es gibt Fälle von Kindern, die bereits mit neun Monaten laufen – dies scheint stark von der Umgebung abzuhängen, in der sie aufwachsen. Unsere Kinder haben zudem oft wenig Freiräume, um die Natur zu erkunden. Wenn wir ihnen diese Möglichkeiten bieten können, unterstützen wir ihre Entwicklung. Eine sogenannte „Ja“-Umgebung kann dabei helfen, dies umzusetzen. So hören die Kinder nicht ständig ein „Nein!“ und der kleine Forschergeist kann sich entfalten.

Kinder lernen zunehmend früher, sich in sozialen Umgebungen außerhalb der Familie zurechtzufinden. Ein Beispiel hierfür sind Kitas: In den letzten anderthalb Jahrzehnten ist die Anzahl der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren stark gestiegen. Der Bedarf dafür ist zweifellos vorhanden. Wie können Eltern ihre Kinder auf diese neue Umgebung vorbereiten oder sollten sie den dortigen Gruppen und Fachkräften vertrauen?

Eltern kennen ihr Kind am besten und sollten daher in Zusammenarbeit mit den Fachkräften die Eingewöhnung in neue Umgebungen unterstützen. Seneca sagte: „Es ist gleich falsch, jedem und keinem zu trauen.“ Daher empfiehlt es sich, den Eingewöhnungsprozess gut zu besprechen und zu beobachten, wie das Kind damit zurechtkommt. Die Betreuungspersonen sind im Prinzip ein erweitertes Dorf und der Austausch mit diesen Menschen sollte intensiv gepflegt werden.

Eine weitere bedeutende Phase im Leben junger Menschen, welche zahlreiche Veränderungen und Entwicklungen mit sich bringt, ist die Pubertät. Wie kann das persönliche Umfeld, insbesondere die Familie, einen Jugendlichen in dieser Zeit unterstützen, in der er sämtliche Gefühlslagen durchlebt?

In diesem Lebensabschnitt ernten wir die Früchte unserer bisherigen Erziehung. Wenn wir eine gute Beziehung zu unseren Kindern haben, können wir nun nachsichtig sein. Die Empathiefähigkeit der Jugendlichen kann nachlassen, ihr Biorhythmus verändert sich, und ihre Prioritäten verschieben sich. Es ist ratsam, uns für ihre Lebenswelt zu interessieren, offen zu bleiben und nicht zu erwarten, dass alles von alleine funktioniert. Zwar mag es sein, dass wir TikTok und YouTube wenig faszinierend finden, aber wenn dies die Welt unserer Kinder ist, sollten wir einen Blick darauf werfen, um zu verstehen, was sie interessiert. Viele Jugendliche in dieser Altersgruppe sind auch sehr politisch interessiert; jedoch kann der Klimawandel sie überfordern, woraufhin sie sich zurückziehen. Auch in diesem Bereich können wir im Gespräch und in Kontakt bleiben, damit keine „Klima-Angst“ entsteht und Kinder lernen, wie sie sich demokratisch beteiligen und selbstwirksam bleiben können. Das menschliche Gehirn ist erst mit 21 Jahren vollständig entwickelt; bis dahin benötigen unsere Kinder weiterhin unsere Unterstützung, auch wenn sie bereits erwachsen erscheinen. Wir sind weiterhin Vorbilder – wenn wir das Smartphone mit ins Bett nehmen, werden es die Kinder ebenfalls tun.

„Unsere Kinder sind der Apfelbaum, den wir 

heute pflanzen“

Seit 2014 veröffentlichen Sie Ratgeber zu den Themen Erziehung und Familie. In Ihrem neuesten Werk „Artgerecht durch den Familienalltag … weil das Leben auch echte Lösungen braucht!“ behandeln Sie Fragen, die Ihnen Eltern häufig gestellt haben und die bislang noch in keinem Ratgeber beantwortet wurden. Welchen Herausforderungen sehen sich junge Eltern in der heutigen Zeit gegenüber?

Nie in der Geschichte der Menschheit waren Eltern so oft alleine, und wir alle leiden unter dem ständigen Zeitdruck. Die Ressourcen sind überall knapp bemessen. Als Gesellschaft sollten wir uns darum bemühen, Eltern stärker zu unterstützen, zum Beispiel indem wir qualitativ hochwertige Kinderbetreuung bereitstellen und etwas Druck aus der „Rushhour des Lebens“ zwischen 20 und 40 Jahren nehmen. Aber auch wir Eltern können viel tun, indem wir unseren Perfektionismus reduzieren und im Zweifelsfall immer zugunsten unserer Kinder entscheiden, anstatt für den Arbeitgeber oder die Schule. Sie sind unsere Familie – sie sind unsere Zukunft; sie sind der Apfelbaum, den wir heute pflanzen, auch wenn morgen die Welt untergehen sollte.

Vielen Dank für das Interview, Frau Schmidt!