»VON BEGINN AN FREI«
natürlich HAMM Sommer 2022 – Seite 10
Rubrik: Titelthemen
Autorin: Lukas Rummeny
DIE NACHFRAGE NACH OSTEOPATHIE BEI BABYS UND KLEINKINDERN BOOMT
Die körperliche Unversehrtheit des Kindes ist ein wichtiger Baustein für das Urvertrauen zwischen Kind und Eltern. Dass diese bereits bei der Geburt gefährdet sein kann, war über Jahrzehnte nicht bekannt. Der Weg durch den Geburtskanal kann zu Blockaden und Beschwerden führen, die etwa langfristige Haltungsschäden nach sich ziehen können. Erst in den letzten Jahren ist festgestellt worden, dass viele Probleme im kindlichen Bewegungsapparat durch die Geburt entstanden sind. Auf der Suche nach einer Behandlungsmethode gelangen viele Eltern an Osteopathen, die sich auf Babys und Kleinkinder spezialisiert haben. Die ohnehin schonenden und schmerzfreien Methoden der Osteopathie sind den Bedürfnissen der kleinen Körper angepasst worden und wirken effektiv. Der Hammer Kinderchirurg und Osteopath Dr. Bernward Kühnapfel erklärt im Interview, was die Baby- und Kleinkinder-Osteopathie ausmacht und wieso sie so effektiv ist.
Die Zahl der osteopathischen Behandlungen steigt stetig an. Das gilt auch für Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder. Trotzdem gibt es immer noch Kritiker, die Osteopathie bei sehr jungen Menschen ablehnen. Welche Argumente führen Sie dagegen ins Feld?
Ich bin seit 27 Jahren als Kinder- und Jugendchirurg und seit 10 Jahren osteopathisch mit dem Schwerpunkt der Säuglings- und Kinderosteopathie tätig.
Somit vereinige ich zwei gegensätzliche ärztliche Tätigkeiten miteinander: die chirurgische ärztliche Arbeit mit dem Skalpell – diese auch schon bei einem Frühgeborenen mit einem Gewicht von 500 Gramm – auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Osteopathie, bei der ich mit meinen Händen in den menschlichen Körper hineinfühle und behandle.
Bei der Osteopathie handelt es sich um eine Form der Behandlung, die die wissenschaftlich begründeten Methoden der Medizin ergänzt, also eine sogenannte Komplementärmedizin.
Die Osteopathie stellt eine sinnvolle und segensreiche ERGÄNZUNG zur Schulmedizin dar. Osteopathisch Tätige müssen sich dabei immer der Grenzen einer osteopathischen Behandlung bewusst sein und dieses auch klar mit den ihnen Anvertrauten kommunizieren.
Bei welchen Anzeichen des Kindes sollten sich frischgebackene Eltern an eine Osteopathin / einen Osteopathen wenden?
Meiner Antwort auf diese Frage möchte ich vorwegschicken, dass bei allen Problemen, die Eltern bei ihrem neugeborenen Kind sehen, aus meiner Sicht zunächst die Kinderärzt:innen und Hebammen die ersten Ansprechpartner:innen sein sollten. Eine osteopathische Untersuchung kann und darf eine kinderärztliche Abklärung oder Vorsorgeuntersuchung nicht ersetzen, es sei denn, es handelt sich um eine Osteopathin, die gleichzeitig Ärztin für Kinderheilkunde ist. Einer routinemäßigen osteopathischen Untersuchung bei einem Säugling ohne offensichtliche Probleme stehe ich kritisch gegenüber, denn eine „Disbalance“ kann man bei einer osteopathischen Untersuchung immer feststellen. Ich setzte das Wort Disbalance bewusst in Anführungszeichen, denn eine fühlbar unterschiedliche Gewebespannung oder „Disbalance“ muss nicht bedeuten, dass eine zu behandelnde Dysfunktion (Störung) vorliegt.
Die osteopathische Untersuchung von Säuglingen mit Still- und Trinkproblemen, Schlafproblemen, ungewöhnlich stark ausgeprägten Unruhephasen oder vermehrtem Schreien, aber auch Vorzugshaltungen – „Lieblingsseiten“ – macht Sinn. Das Ablehnen der Bauchlage, die fehlende Kopfkontrolle oder häufiges Überstrecken eines Säuglings sind Anzeichen, um ein Baby ggf. in einer osteopathischen Praxis vorzustellen. Besteht eine asymmetrische Verformung des Kopfes, ein sogenannter Plagiozephalus, ist eine osteopathische Behandlung absolut sinnvoll, da hier eine Fehlfunktion – ich selber benutze das Wort Blockade nur ungern – vorliegen KANN, die womöglich osteopathisch behandelt werden kann. Nicht selten ist jedoch auch eine manualtherapeutische Behandlung einschließlich der Atlastherapie nach Arlen zu erwägen. Hierfür wiederum gibt es speziell ausgebildete Fachleute.
Die sogenannten Neugeborenenkoliken führen Eltern mit ihren Säuglingen immer wieder in die osteopathische Praxis. Hier kann die Osteopathie zu einer Linderung der Beschwerden führen. Es gibt allerdings auch genügend Fälle, in denen sich das Problem der Koliken nicht osteopathisch beheben lässt. Dieses muss ich als osteopathisch tätiger Arzt mit den Eltern gut kommunizieren, um keine Fehlerwartungen aufkommen zu lassen.
Nach einer sehr schnellen Geburt, einer Entbindung unter Zuhilfenahme einer Zange (Forzepsentbindung) oder Saugglocke (Vakuumextraktion) oder einer Kaiserschnittentbindung ist es gut, an eine osteopathische Behandlung zu denken. Hebammen haben oft mit ihrer Erfahrung ein gutes Auge und sind geschult, sodass sie immer wieder den Weg der Säuglinge in die osteopathische Praxis bahnen.
Ich handle nach der Prämisse, dass für die oben aufgeführten Beschwerden nicht immer ein osteopathisch behandelbares Problem oder eine sogenannte „Blockade“ vorliegen muss. Gute Osteopath:innen nehmen sich zurück und hinterfragen ihre Befunderhebung immer kritisch. Junge Eltern hören jeden Zwischenton und sind schnell verunsichert.
Es heißt, dass eine Nichtbehandlung zu Schäden in der Körperhaltung und im Bewegungsapparat führen kann. Gibt es eine Art „Altersgrenze“, bis zu welcher Osteopath:innen das Problem möglichst komplikationsfrei lösen können?
Als Kinder- und Jugendchirurg weiß ich, was ein Notfall ist, der sofort behandelt werden muss. In der Osteopathie, die sich mit Säuglingen befasst, sehe ich ebenfalls Probleme bzw. „Notfälle“, die zumindest zeitnah osteopathisch abgeklärt und dann ggf. auch behandelt werden sollten: das Neugeborene, bei dem es Still- bzw. Trinkschwierigkeiten gibt, und bei den sogenannten „Schreibabys“ oder Babys mit anhaltenden Unruhephasen. Hier gibt es vielfältige Ursachen, die schonend und effektiv osteopathisch, nach vorheriger kinderärztlicher Abklärung, behandelt werden können. Es ist bedauerlich, wenn eine junge Mutter ihr Kind stillen möchte und dieses nicht möglich ist, weil das Baby z. B. die eine Brust, aufgrund einer Einschränkung der Kopfdrehung, nicht annimmt und somit der Milchfluss versiegt. Schlimm ist auch, wenn Mütter erschöpft oder sogar weinend vor mir sitzen, weil ihr Baby bis zur Erschöpfung schreit, sich nicht ablegen lässt und an eine Ruhepause nicht zu denken ist. Viele Mütter und Väter halten das irgendwie aus, einige aber auch nicht.
Dass eine Nichtbehandlung zu dauerhaften Veränderungen beim Kind führt, kommt vor. Hier sei die asymmetrische Kopfform exemplarisch erwähnt, der sogenannte Lagerungsplagiozephalus. Hier sollte in den ersten Lebenswochen eine Behandlung erfolgen, da die Kopfverformung mit zunehmendem Alter des Säuglings, auch nach Behebung des Grundproblems, also z. B. einer „Blockade“ der Kopfgelenke oder im Bereich der Halswirbelsäule, nicht mehr behoben werden kann. Hier ist aber auch wieder ggf. eine Begleitbehandlung durch Spezialist:innen notwendig, die die Atlastherapie beherrschen oder eine Helmtherapie durchführen. Innerhalb der ersten 15 Lebensmonate ist das Kopfwachstum am größten, sodass in dieser Zeit die besten Erfolge zu erwarten sind.
Ein muskulärer Schiefhals stellt ebenfalls ein Problem dar, das, nicht behoben, zu einer Verformung des Gesichts führt, der sogenannten Gesichtsskoliose. Hier kann eine osteopathische Behandlung segensreich sein, selten ist jedoch eine operative Durchtrennung des entsprechenden Muskels unausweichlich.
Häufig wird der Begriff „Geburtstraumatisierung“ verwendet, wenn es um die Osteopathie beim Säugling geht. Damit verbunden sind körperliche Anstrengungen für das Kind, während der Schwangerschaft und der Geburt. Welche Ereignisse können für das Kind traumatisierend sein?
Grundsätzlich ist jede Geburt sowohl für die Mutter als aber eben auch für das Kind eine große Anstrengung.
Klar ist auch, dass eine Schwangerschaft sehr schön verlaufen, aber auch mit großen Stressmomenten für die Schwangere und damit auch für das ungeborene Kind einhergehen kann.
Über einer Mutter, die schon in der 20. Schwangerschaftswoche unter vorzeitigen Wehen leidet, hängt das Damoklesschwert einer möglichen Frühgeburt. Das kann bedeuten, dass das Neugeborene ein „Schreibaby“ ist, muss es aber nicht. Hier sei die Epigenetik am Rande erwähnt, die als Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen gilt, das heißt, wie Gene reguliert werden.
Nicht jede Zangengeburt oder Kaiserschnittentbindung muss für das Kind eine „Traumatisierung“ darstellen. Genauso gut kann eine spontane Entbindung für das Kind bedeuten, dass es einen schweren Start in das Leben hat. Eine sich über viele Stunden hinziehende spontane Entbindung kann ebenso wie eine sehr schnelle Geburt oder Kaiserschnittentbindung Probleme bedingen, die ggf. osteopathisch behandelt werden können. Osteopath:innen sehen oft auch in einer Nabelschnurumschlingung die Ursache für Beschwerden, die einer osteopathischen Behandlung bedürfen.
Schwangerschaft und Geburt sind auch für die Mutter mitunter ein anstrengender physischer Akt. Nicht selten ist auch sie von einer Geburt traumatisiert, weil ihr Körper eine große Veränderung durchmacht. Wie kann die Osteopathie ihr helfen?
Bereits während der Schwangerschaft kann eine werdende Mutter durch die Änderung des Hormonhaushaltes Beschwerden bekommen. Ich meine hier nicht das Auftreten eines Schwangerschaftsdiabetes. Durch den Hormonwechsel kommt es zu einer Lockerung der Bandstrukturen. Dies kann Ursache für Schmerzen insbesondere in der Lendenwirbelsäule, des Beckens und des Schambeins führen. Hier kann eine osteopathische Behandlung Linderung bringen. Von manualtherapeutischen Impulsbehandlungen ist jedoch abzusehen, da dadurch vorzeitige Wehen ausgelöst werden können.
Das Gleiche gilt für die Zeit kurz nach der Geburt. Durch ein sogenanntes myofasziales Release werden schmerzhafte Verspannungen gelöst. Der Lymphfluss kann angeregt und reguliert werden. Blockaden im Bereich der Wirbelsäule können durch passive Mobilisation, aber auch die sogenannte Muskelenergietechnik, bei der die Mutter aktiv beteiligt ist, gelöst werden. Einen hohen Stellenwert hat darüber hinaus die kraniosakrale Therapie (Schädel-Kreuzbein-Therapie), bei der durch minimale Druck- und Zugkräfte Gewebespannungen gelöst werden. An dieser Stelle muss jedoch erwähnt werden, dass gerade die kraniosakrale Therapie und ihre Wirksamkeit in wissenschaftlichen Kreisen heftig diskutiert werden und nicht allgemein anerkannt sind.
Kommen wir zum Abschluss auf die Zusammenarbeit mit der konventionellen Medizin. Häufig wird eine osteopathische Behandlung ergänzend zu einer schulmedizinischen Behandlung angewandt. Wie ist das in der Pädiatrie? Wie würden Sie in dem Bereich die Zusammenarbeit zwischen Therapeut:innenund Schulmediziner:innen beurteilen?
Hier besteht ein großer Nachholbedarf bezüglich der konstruktiven Auseinandersetzung zwischen den osteopathischen Therapeut:innen und Schulmediziner:innen. Bedenken der Pädiater:innen gegenüber der Osteopathie können nur durch einen regen Austausch ausgeräumt werden. Hier ist aus meiner Sicht die kritische und ehrliche Auseinandersetzung beider Branchen, also sowohl der osteopathisch Tätigen als auch der Schulmediziner, mit der Osteopathie absolut notwendig. Schwarze Schafe gibt es auf beiden Seiten.
Mein Wunsch an Schulmediziner und osteopathisch tätige Therapeuten: Kommuniziert miteinander und legt beiderseitige Vorurteile ab. Ich freue mich als Kinder- und Jugendchirurg und gleichzeitig osteopathisch tätiger Arzt auf einen guten Dialog.
KURZVITA
Dr. med. Bernward Kühnapfel, 56 Jahre alt, verheiratet und Vater von vier Kindern. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendchirurgie. An der DAOM (Deutsche Akademie für Osteopathische Medizin) in Münster hat er die osteopathische Ausbildung mit anschließender Masterausbildung für Säuglinge und Kinder absolviert. Schließlich ist er ausgebildet in gesundheitsorientierter Gesprächsführung nach dem Brügger Modell. Neben seiner klinischen Tätigkeit als Kinder- und Jugendchirurg arbeitet er in seiner osteopathischen Praxis in Hamm mit Schwerpunkt der Säuglings- und Kinderosteopathie.